E. Szarka: Sinn für Gespenster

Cover
Titel
Sinn für Gespenster. Spukphänomene in der reformierten Schweiz (1570–1730)


Autor(en)
Szarka, Eveline
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Wien 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 75,00
von
Rainer Hugener, Nacherschliessung und Digitalisierung, Staatsarchiv des Kantons Zürich

Wahrnehmungen des Übersinnlichen können über eine Gesellschaft mindestens ebenso viel aussagen wie die von ihr hervorgebrachten Objekte und Praktiken. Denn ob man vermeintlich übernatürliche Phänomene auf Hexerei, Zauberei, Ausserirdische, Dämonen oder eben Geister zurückführt, hängt eng mit den ihr zugrunde liegenden Glaubenssystemen zusammen. Offensichtlich wird dies im Zeitalter der Konfessionalisierung, als sich die Jenseitsvorstellungen mit der reformierten Lehre wandelten und man demnach eigentlich keine Geister von armen Seelen mehr hätte wahrnehmen können. Entgegen der landläufigen These einer zunehmenden «Entzauberung der Welt» (Max Weber) sahen sich jedoch auch Leute in reformierten Gebieten weiterhin mit Gespenstern konfrontiert, doch wurden sie von den politischen und religiösen Obrigkeiten nun anders interpretiert, nämlich als dämonische Vorspiegelungen. In ihrer bei Francisca Loetz an der Universität Zürich erstellten Dissertation lotet Eveline Szarka dieses Spannungsverhältnis zwischen dem obrigkeitlichen Dogma und den vielfältigen Manifestationen des Geisterglaubens in der Bevölkerung der reformierten Orte Zürich, Bern und Basel aus.

Das Lesevergnügen beginnt beim buchstäblich «geist-reichen» Vorwort, in dem die Autorin mit viel Wortwitz schildert, wie sie zu ihrem Thema gefunden hat. Auch die nachfolgenden Kapitel lesen sich flüssig und sind grösstenteils in einer einfachen, verständlichen Sprache geschrieben. Die Lektüre eignet sich somit nicht nur für ein Fachpublikum, sondern dürfte auch einer breiteren Öffentlichkeit interessante Einblicke in das komplexe Glaubenssystem der frühen Neuzeit vermitteln. Unterstützt wird dies dadurch, dass das Buch auf ausufernde Theoriediskussionen verzichtet; lediglich am Rand wird an praxisorientierte Kulturtheorien (S. 26–32) sowie an Kultursemiotik (S. 57–59) und Sprechakttheorie (S. 87 f.) angeknüpft. Auf geschickte Weise schlägt die Autorin hier eine Brücke zu ihrem germanistischen Nebenfach. Vermutlich könnte man ihre Untersuchungsergebnisse aber auch ohne diese linguistischen Exkurse gut nachvollziehen.

Ebenso klar wie die Sprache ist die Gliederung der Arbeit. Die Einleitung erläutert die Fragestellung, subsumiert den Forschungsstand und beleuchtet die verwendeten Quellen. Neben theologischen Traktaten, Predigten und Mandaten benutzt Szarka vor allem Untersuchungsakten konkreter Spukfälle. Diese breit gefächerte Quellenbasis ermöglicht ihr die analytische Gegenüberstellung von protestantischen Normen mit dem «gelebten Glauben» (S. 13). Auch die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf 1570 bis 1730 wird in der Einleitung einleuchtend begründet. Zwingli selbst hatte sich noch kaum mit Gespenstern beschäftigt; erst in der nachfolgenden Generation intensivierte sich der reformierte Diskurs über Geistererscheinungen. Fortan wurden entsprechende Erlebnisse eingehend untersucht und gedeutet. Aus der Abnahme von dokumentierten Fällen in den Archiven liest Szarka ab, dass das obrigkeitliche Interesse in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu schwinden begann. Die lange Zeitspanne soll verdeutlichen, «dass die Reformation kein einmaliges Ereignis darstellte, sondern vielmehr im Sinne einer long reformation als Prozess verstanden werden muss, der sich über Jahrhunderte erstreckte» (S. 14).

Als Ausgangspunkt für ihre Untersuchung fasst Szarka im zweiten Kapitel die Grundzüge des mittelalterlichen Gespensterglaubens zusammen, als Geister noch vorwiegend als unerlöste Seelen von Verstorbenen galten. Damit kontrastiert sie anschliessend die reformierte Sichtweise, die sich erstmals ausführlich in Ludwig Lavaters berühmtem Gespensterbuch aus dem Jahr 1569 manifestierte. Im dritten Kapitel erläutert Szarka die theologischen Grundlagen dieser Betrachtungsweise: Wie erwähnt konnte es sich bei Gespenstern nicht mehr um unerlöste Seelen handeln, weil die Reformatoren die Lehre vom Fegefeuer ablehnten. Doch auch die reformierten Theologen verhielten sich gegenüber Spukphänomenen nicht grundsätzlich skeptisch; vielmehr betrachteten sie Gespenster als Vorspiegelungen des Teufels. Da dieser in ihrem Verständnis allerdings nur mit Gottes Willen handeln konnte, interpretierten sie Geistererscheinungen – wie andere sogenannte «Wunderzeichen» – entweder als Warnung oder Strafe. In beiden Fällen sollten die Betroffenen zu einem gottgefälligen Leben animiert werden.

Das vierte Kapitel widmet sich der Frage, wer wann wo und mit welchen Sinnen Gespenster wahrnahm. Dem Sehsinn kam dabei eine ausserordentliche Bedeutung zu, doch wurden die meisten Spukphänomene eher als Unruhe wahrgenommen: Die Betroffenen berichten, dass sie etwas Ungewöhnliches gehört oder gespürt hatten oder dass Objekte sich bewegten. Die vielen geschilderten Fallbeispiele lassen erahnen, wie intensiv die Autorin die örtlichen Archive durchforstet hat. Da viele Vorkommnisse an mehreren Stellen im Buch aufgegriffen werden, wäre neben dem Quellenverzeichnis, das die benutzten Bestände lediglich pauschal aufführt, zusätzlich eine detaillierte Liste der gefundenen Fälle hilfreich gewesen. Von einem derartigen Nachschlagewerk hätte auch die weitere Forschung enorm profitieren können.

Das fünfte Kapitel behandelt die verschiedenen frühneuzeitlichen Interpretationsmuster. In der Regel deuteten die reformierten Geistlichen das Erscheinen von Geistern als Bestrafung von sündhaften oder Bewährungsprobe für tugendreiche Menschen; daneben gab es aber durchaus Fälle, die schon von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als Einbildung oder Betrug angesehen wurden. Abschliessend werden im sechsten Kapitel die Mittel beleuchtet, mit denen man Geister zu vertreiben versuchte. Während die Obrigkeit dazu aufrief, auf Spukphänomene nur mit Gebeten und Geduld zu reagieren, behalfen sich Betroffene auch mit Amuletten oder Ritualen, bei denen sie semi-professionelle Geisterbeschwörerinnen oder Geisterbeschwörer hinzuzogen. Szarka erklärt dies damit, dass das theologische Angebot an Bewältigungsstrategien nicht ausreichte, wodurch ein Markt für Expertinnen und Experten entstand, die ausserhalb des obrigkeitlich vorgeschriebenen Rahmens operierten.

Weit über das eigentliche Thema der frühneuzeitlichen Geistererscheinungen hinaus bietet die Arbeit von Eveline Szarka einen tiefgründigen Einblick in das komplexe Glaubenssystem der reformierten Theologie. Für weitere Forschungen wäre es nun spannend, ihre Ergebnisse mit den Wahrnehmungen und Deutungen von Spukphänomenen in den katholischen Orten der Eidgenossenschaft zu vergleichen, um spezifisch konfessionelle oder allgemein frühneuzeitliche Interpretationsmuster herauszuarbeiten. Dabei sollten auch weitere als übernatürlich interpretierte Phänomene miteinbezogen werden, sind doch beispielsweise Parallelen zum Verlauf der Hexenverfolgungen unübersehbar. Ebenso reizvoll wäre es, das Thema chronologisch noch weiter zu verfolgen in eine Zeit, die sich über den Begriff der Aufklärung definiert – und trotzdem von Spukphänomenen fasziniert bleibt.

Zitierweise:
Hugener, Rainer: Rezension zu: Szarka, Eveline: Sinn für Gespenster. Spukphänomene in der reformierten Schweiz (1570–1730), Wien 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 376-378. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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